8. Juli bis 13. September 2024
In seiner konzeptuellen Serie “Past Perfect” untersucht Jürgen Schmidt die Transitorik der Bewegung im analogen Schwarzweißformat. Das Verschwinden jeglicher bestimmbarer und unterscheidbarer Form in seinen Porträtfotografien weicht einem ephemeren Eindruck, der das Vergängliche unseres Seins fixiert. Es ist der Verlust der Gewissheit, der Moment der Entschärfung der ins Auge stechenden Reize und die partielle Abwesenheit der konkreten, greifbaren Gestalt, die auf die Relativität alles Seienden verweisen.
Midissage am Samstag ° 10. August 2024 ° 14 bis 18 Uhr
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog
Abbildung: Jürgen Schmidt, aus der Serie „Past Perfect“, Handabzug auf Barytpapier, 22,4 x 23,5 cm, 2023
Im Dickicht der Zeit
Essay von Katharina Arlt
Ausgehend von der Fragestellung des britischen Anthropologen Robin Dunbar, wie groß die Anzahl der Menschen sei, mit denen wir soziale Kontakte unterhalten, entwickelt der in Dresden lebende Fotograf Jürgen Schmidt 2023 die Idee eines Fotoprojekts. Er wählt den Zeitraum eines Jahres, innerhalb dessen er einzelne Personen des eigenen Freundes- und Bekanntenkreises, bestehend aus etwa 40 Menschen, bei sich mehr oder minder zufällig ergebenden Gelegenheiten der persönlichen Begegnung jeweils spontan darum bittet, ihm für eine Reihe von Aufnahmen Modell zu stehen. Unter diesen Voraussetzungen einer ungezwungenen Zusammenkunft konnte das jeweilige Gegenüber kaum langfristige Vorkehrungen für die Situation des Fotografiertwerdens treffen, d.h. Arrangements für Szenerie, Zeit und Ort der Aufnahme blieben dem Fotografen und dem Zufall überlassen.
In seinem für Variationen und Abweichungen durchaus offenen konzeptuellen Vorgehen plant Schmidt, jede Person individuell zu porträtieren, wobei allein Kopf- und Schulterpartie des stehenden Modells den Bildausschnitt bestimmen. Auch die Zeit der jeweiligen “Sessions” erstreckt sich nur über wenige Minuten. Die Ausstellung zeigt 31 Aufnahmen von 30 der ursprünglich 40 avisierten Porträts, da sich im vorgegebenen Zeitraum letztlich weniger Begegnungen zwischen dem Fotografen und seinem Freundes- und Bekanntenkreis ergaben.
Rekurrierend auf die empirische Methodik seiner einstigen Berufspraxis als Naturwissenschaftler, sucht der Künstler auch in seiner Fotografie, im Sinne der systematischen, planmäßigen und zielorientierten Gewinnung von “objektiven” Daten, eine Atmosphäre identischer Ausgangsbedingungen während der Aufnahmesituation. Bereits bei der Wahl des Fotoapparates, einer einfachen Mittelformatkamera mit Springtubus des Modells Agfa Isola II, beschränkt er sich in seinen Beeinflussungsmöglichkeiten im Moment der Aufnahme. Produziert als Einsteigermodell von 1956 bis 1963, bietet die Agfa Isola dem Fotografen lediglich die Wahl zwischen zwei Belichtungszeiten. Jürgen Schmidt wählt daher mit 1/30 Sekunde eine der möglichen, fixen Verschlusszeiten, die für jede seiner Aufnahmen verbindlich wird. Auch die Blende bietet nur zwei Einstellungen und beim Objektiv handelt es sich um eine Festbrennweite. Ebenso orientiert er sich an dem daraus resultierenden, festgelegten Mindestabstand von einem Meter, den er zur jeweils porträtierten Person einhält und verzichtet zugleich auf die Verwendung eines Stativs. Auch die Wahl des Bildhintergrundes überlässt Schmidt keinesfalls den Dargestellten selbst. Vorzugsweise wählt er einen neutralen, meist hellen Fond, wie eine verputzte und farbig gefasste Hauswand oder Mauer, die jedoch keinerlei Rückschlüsse auf eine konkrete Lokalisierung des Aufnahmeorts zulässt. Die “Shootings” finden zu Tageslichtbedingungen bei jeder Witterung im Freien statt. Dies hat zur Folge, dass er für jedes Modell eine Rolle seines mittelformatigen Schwarzweiß-Films des Fabrikats Fomapan 100 mit je 12 Aufnahmen einkalkuliert, um zusätzliche Filmwechsel zu vermeiden und späterhin aus einer Reihe von Fotografien wählen zu können. Final findet jeweils nur eine Porträtaufnahme pro Modell Eingang in das Ausstellungsformat.
Abbildung: Jürgen Schmidt, aus der Serie „Past Perfect“, Handabzug auf Barytpapier, 22,4 x 23,5 cm, 2023
Das auf den ersten Blick homogen und seriell anmutende Konzept seiner Schau wird jedoch entscheidend in der Aufnahmesituation unterminiert. Schmidt weist Freunde und Bekannte an, sich vor der Kamera vorzugsweise im Bereich der Kopf- und Halspartie frei zu bewegen, wie z.B. den Kopf von rechts nach links zu drehen. Auf diese Weise überspielt er für sein Gegenüber den Augenblick des Auslösens und nimmt ihm die Hemmungen und Vorbehalte in der Aufnahmesituation, die für gewöhnlich zu Posen und Inszenierungen auf Seiten der Porträtierten führen. Der Fotograf durchkreuzt gewissermaßen unsere Erwartungen und Wahrnehmungsgewohnheiten, die sich angesichts seiner eingangs geschilderten Methodik aufgebaut haben. Über die Bewegung der Protagonisten kommt es zu einer Art Kontrollverlust, es entstehen häufig gelöste und durchaus humorvolle, authentisch wirkende situative Aufnahmen. Zugleich evoziert Schmidt bewusst, mit den ausschließlich für statische Porträts konfigurierten, fototechnischen Parametern, eine Bewegungsunschärfe, die sich in seinen finalen Handabzügen auf Barytpapier zeigt. Die variierenden Geschwindigkeiten und Intensitäten der ausgeführten Bewegungen der jeweils Porträtierten zeichnen sich als unterschiedliche Grade der Unschärfe in der finalen Aufnahme ab. Je schneller, expliziter, raumgreifender und intentionaler eine Bewegung vor der Kamera ist, desto größer wird der Anteil der Unschärfe in Gesicht und Haartracht. Dies bedeutet, die Porträtierten haben einen Spielraum innerhalb dessen sie sich durchaus der fotografischen Repräsentation entziehen können oder aber gezielt in reduzierter, langsamer und kaum merklicher Bewegung bewusst exponieren, so dass ihre gefassten Gesichtszüge deutlich erkennbar sind und sie konkret identifizierbar erscheinen. Die Resultate der gezeigten Arbeiten belegen beide Praktiken.
Die formale Versuchsanordnung der Aufnahmesituation lockert sich zudem zusehends durch minimale Abweichungen. Die jeweils im Zentrum der Komposition stehenden Personen sind zwar stets mittig vor einer Mauer positioniert, doch mitunter variiert ihre Körperhaltung: der Oberkörper erscheint in seitlich eingedrehter Positur, der Kopf entsprechend in konventioneller Dreiviertelansicht, während sich ein weiterer Teil der Porträtierten in Kopf und Torso bildparallel zum Hintergrund verhält. Bisweilen kommt es zu stärkeren Divergenzen. Einmal verwendet Schmidt unabsichtlich einen Farbfilm anstatt des üblichen Schwarzweißmaterials oder ein Hund begleitet die Aufnahme eines der Protagonisten und verändert somit das Bewegungsmuster. Doch diese Abweichungen von der Regel eröffnen in dem tendenziell objektivierenden Blick eine weitere subjektive Perspektive des Künstlers.
Ausgangspunkt der Fotografien Jürgen Schmidts ist eine stets nahezu identisch ablaufende Aufnahmesituation unter technischen und inhaltlich übereinstimmenden Parametern. Das einzige nicht kalkulierbare Moment ist die Komponente der Bewegung, die seinen Akteuren vor der Kamera einen Spielraum ihres Ausdrucks und direkten Einfluss auf ihre jeweilige Aufnahme einräumt. Dennoch haben wir es streng genommen mit einer halb fingierten Momentaufnahme zu tun. Denn der vermeintlich entscheidende Moment, die Plötzlichkeit des entscheidenden Augenblicks, wird nicht durch ein sich natürlich ereignendes, äußeres Geschehen oder ein interaktives Erlebnis motiviert bzw. herbeigeführt, sondern resultiert schlicht aus der Aufforderung zur Bewegung, die der Fotograf an sein jeweiliges Modell richtet. Gleichwohl stellt jene Bewegung das zeitliche Moment der Vorvergangenheit (Past Perfect) dar – die der Ausstellung als Motto vorangestellt ist. Häufig ist es sogar möglich, die Art des Bewegungsablaufs, die dem Aufnahmezeitpunkt vorausgegangen ist, eindeutig zu identifizieren. Dem Fotografen allein obliegt es, mit Bedacht aus den Abschnitten des kurzen Aufnahmezeitraums die jeweiligen Momente des Geschehens zu wählen, die er zur Darstellung bringen möchte. Über die Fixierung mit der Kamera werden einzelne Momente aus dem Zeitkontinuum herausgegriffen und in Erweiterung des Augenblicks auf Dauer gestellt. Wir als Betrachter erleben jene Transitorik des Moments umso intensiver durch die Unschärfe der Bewegung. Für uns verläuft die Zeit vor dem Bild kontinuierlich, wir können beliebig lange vor den Abzügen verweilen und sie eingehend betrachten, ganz im Gegensatz zur fotografisch fixierten Zeit, die sie abbilden. Doch was erfahren wir als Betrachter von jenen Porträtierten?
Abbildung: Jürgen Schmidt, aus der Serie „Past Perfect“, Handabzug auf Barytpapier, 22,4 x 23,5 cm, 2023
Welche Informationen lassen sich ohne Kenntnis über die Verbindung des Fotografen zu den jeweils Fotografierten innerhalb dieses minimalen Referenzrahmens gewinnen? Es sind einzelne Gesten, verhaltene Mimik und Bewegung, ja Körperhaltungen, die jedoch nur zu Spekulationen über Alter, Geschlecht, soziale und kulturelle Zugehörigkeit führen. Befindlichkeiten und Stimmungen lösen sich unter der Folie der Bewegungsunschärfe aus dem engen Verbund des Bildgefüges, treten mitunter stärker hervor oder bleiben indifferent und vage. Allein anhand der Kleidung der Protagonisten lassen sich Jahreszeiten und Witterungsbedingungen ableiten. Wesentliches Moment ist jedoch die Bewegungsunschärfe, die Schmidts fotografische Porträtreihe als Bildphänomen dominiert. Sie zeichnet als fotografische Spur die in zeitlicher Dauer vollzogenen Bewegungen auf. Vereinzelt lassen sich sogar die einzelnen Stadien der Bewegung als lichte Bewegungstrajektorien noch im finalen Abzug verfolgen, häufig sind sie in eine synthetisierende Geste überführt.
Als intentionales, fotografisches Stilmittel wird die Bewegungsunschärfe zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals eingesetzt und zum “Erkennungszeichen einer besonderen bildnerischen Leistung”. Für die italienischen Futuristen Anton Giulio Bragaglia (1890-1960) und Arturo Bragaglia (1893-1962) war sie metaphysischer Ausdruck dessen, “(…) was an der Oberfläche [der Darstellung] nicht sichtbar ist”. In ihren Fotografien experimentierten sie mit einfachen Kopfbewegungen von links nach rechts, ließen Gegenstände anheben oder simple Interaktionen zwischen zwei Personen ablaufen. Jürgen Schmidt rezipiert jene durch Licht und Bewegung induzierte Unschärfe und Auflösung der körperlichen Materialität auch als Exempel des Verlaufs und Verlusts der eigenen Zeit, die eine Reihe von Zusammenkünften markiert, die er mit ihm vertrauten Menschen verbracht hat.
In seiner finalen Auswahl der Handabzüge überlagern sich vereinzelt, zentriert im Bild vollzogene, fotografische Spuren der bewegten Physiognomie. Mitunter bilden sie Formen metamorphotischer Zustände aus summarischer Reduktion oder Deformation. So verfestigten sich Gesichtsformen an einigen markanten Stellen, um dann wieder von einer nächsten Ansicht überblendet zu werden. Die sich in der Bewegungsunschärfe auflösenden einzelnen Ansichten des Gesichts durchdringen sich wechselseitig, sodass eine Mehrfachansicht der markantesten Merkmale des Antlitz, der Ohren, der Nase, der Augen und des Mundes entsteht. In dieser Fragmentierung der Körperformen werden die einzelnen Gesichtsteile ihrem ursprünglichen Zusammenhang enthoben und bilden neue visuelle Kombinationen – eine gedoppelte Nase oder verschwimmende Augenpartien, die in einem Strudel unterschiedlicher Grautöne kulminieren. Die verwaisten Körperfragmente changieren zwischen abstrahierender Auflösung und Fixierung. Die Konturen der Gesichter werden diffus, weichen einem schimmernden Schmelzen harter und kantiger Formen. Einzelne Partien wie Mund, Nase und Wangen verlieren ihre Definition und gehen scheinbar ineinander über. Das Verschwinden jeglicher bestimmbarer und unterscheidbarer Form weicht einem ephemeren Eindruck, der das Vergängliche unseres Seins fixiert. Es ist der Verlust der Gewissheit, der Moment der Entschärfung der ins Auge stechenden Reize und die partielle Abwesenheit der konkreten, greifbaren Gestalt in jenen Porträtaufnahmen Jürgen Schmidts, die auf die Relativität alles Seienden verweisen.